Bildethik

Bildethik – Context matters!

Anna Götte (2022)

Die Erschließung und Zugänglichmachung von Leonore Maus fotografischem Werk und die damit einhergehende Publikation ihrer Bilder im Rahmen einer Online-Datenbank in für den Nachlass Leonore Maus ungekanntem Umfang stellt die beteiligten Akteure und Institutionen vor bisher eher wenig beachtete Fragen juristischer, aber auch ethischer Dimension. Da ist zum einen die Dimension der Persönlichkeitsrechte abgebildeter Personen, ein Feld, dass sich seit der Entstehung der Bilder ständig weiterentwickelt und verändert hat, nicht zuletzt durch die Entwicklung des Internets und der damit verbundenen Möglichkeit, Bilder jederzeit, überall und für jeden zugänglich zu machen. Hinzu kommt, dass die Publikation von Bildern aus sensiblen Entstehungskontexten insbesondere bei Onlinepublikationen aufgrund der weltweiten uneingeschränkten Verfügbarkeit einen besonderen Anspruch bezüglich einer Kuratierung oder Kontextualisierung an die veröffentlichende Institution stellen. Christoph Ransmayr, Schriftsteller und langjähriger Kurator der S. Fischer Stiftung, formulierte zum Publikationskontext einiger Bilder Leonore Maus während der Recherche für diese Website folgenden Gedanken:

„Leidende, gequälte Menschen darzustellen, enthält in den meisten Fällen wohl auch die Verpflichtung, ihre Geschichte so vollständig wie möglich zu überliefern, also nicht nur ihr Bild zu zeigen, sondern erst recht von den Umständen zu reden, zu schreiben, unter denen dieser Sekundenausschnitt aus einem Leben zur Sprache, zur Dokumentation kam. Wenn, in welcher Darstellung auch immer, nicht ein einzelner, unverwechselbarer Mensch mit ‚Namen und Anschrift‘ im Bewußtsein, im Mitleid oder der Empörung eines anderen erscheint, ist bloß ein weiterer Akt des Voyeurismus geschehen.“

Einige Aspekte der Suche nach einem verantwortungsvollen Umgang mit dokumentarischen Bildern aus sensiblen Entstehungskontexten werden am Beispiel des Fotobandes Psyche (2005) und der Fotomappe Grosse Anatomie (1977) von Leonore Mau und Hubert Fichte deutlich:

1974 und 1976 reisen Leonore Mau und Hubert Fichte in den Senegal und besuchen dort in Dakar (Fann) und Ziguinchor in der Casamance die sog. Psychiatrischen Dörfer. Hier entstehen Bilder von Patient:innen, Pfleger:innen und Ärzt:innen dieser Einrichtungen, die später, nach Hubert Fichtes Tod, in dem Bildband Psyche veröffentlicht werden. Fichte führt auf diesen Reisen außerdem zahlreiche Interviews mit Ärzt:innenen und Patient:innen (Psyche, Glossen, 1990). Die Ambivalenz der Entstehungssituation von Bildern und Interviews, sowie des Versuches westeuropäische psychiatrische Behandlungsansätze mit lokalen traditionellen Heilungsansätzen zu kombinieren, wird von einigen von Fichtes Interviewpartnern und von ihm selbst klar benannt und scheint sich auch in Leonore Maus Bildern durchaus widerzuspiegeln. Sie selbst beschreibt die Situation in einem Interview mit Ingo Niermann 2005 folgendermaßen:

„Fann wurde geleitet von dem französischen Professor Henri Collomb. Mit dem sind wir auch in seinem kleinen Flugzeug in die Casamance geflogen, in das von ihm gegründete psychiatrische Dorf. Das Dorf ist gebaut worden, damit die Kranken gemeinsam mit Familienangehörigen leben konnten. (…)

Einmal die Woche versammelten sich die Ärzte und ein Kranker mit Familie zum Pinth, das heißt im Woloff Zusammenkunft. Dann wurde der Fall besprochen, und die meisten Ärzte sprachen nur die Kolonialsprache Französisch. Nur einer konnte Woloff, weil er mit einer Senegalesin verheiratet war. Hubert Fichte schreibt dazu in seinem Text „Gott ist ein Mathematiker“: Wenn man mit einem für verrückt Erklärten nicht in seiner Sprache reden kann, das ist der Irrsinn dritten Grades.“ (…)

Ohne Titel (Leonore Mau im psychiatrischen
Dorf „Village Émile Badiane“ von Kenia
bei Ziguinchor, in der Casamance, Senegal), 1976
© Wolfgang von Wangenheim

Frontseite des Begleittextes aus: Grosse Anatomie,
PPS-Galerie F.C. Gundlach, S. Fischer Verlag
© Marlene Burmeister

Vermerk zur Nicht-Veröffentlichung aus: Grosse Anatomie,
PPS-Galerie F.C. Gundlach, S. Fischer Verlag
© Marlene Burmeister