Leonore Mau und Hubert Fichte

Mau – Fichte // Irma – Jäcki. Die Fotografin, der Schriftsteller

Christa Karpenstein-Eßbach (2022)

Irma und Jäcki, Leonore Mau und Hubert Fichte – die ersten beiden sind erfundene Figuren in Fichtes siebzehnbändiger „Geschichte der Empfindlichkeit“, die beiden anderen leibhaftige Personen. Ob erfunden oder nicht: die eine ist Fotografin, der andere Schriftsteller. Und sie haben gemeinsam, dass sie einander in Liebe und Arbeit verbunden sind, dass sich die beiden Künste des Schreibens und Fotografierens mit einander verschränken und die eine sich in der anderen spiegelt, wenn sie mit ihren Mitteln die Welten anderer Kulturen reisend erkunden und darstellen.

„Du willst alles von mir wissen. / Ich will alles von dir wissen“[1]

In dem Roman „Forschungsbericht“ wird Irma von Jäcki gefragt: „Stört es dich, daß du darin vorkommen wirst?“[2] Es stört die semifiktionale Irma/Leonore so wenig wie die wirkliche Leonore Mau.[3] In „Hotel Garni“, dem Eröffnungsband der „Geschichte der Empfindlichkeit“, haben die, die alles voneinander wissen wollen (was im Übrigen eine Antwort auf die vorangegangene Frage „Was heißt lieben?“ ist) ihren Auftritt. Hier ist kein Erzähler zu finden, der seine Protagonisten aus einer souveränen Position heraus regiert, sondern ein reziprokes Verhältnis des Berichtens, das den Charakter eines gegenseitigen Interviews hat. Während Jäcki/Fichte im Rahmen seiner neugierigen ethnologischen Erkundungen in anderen Ländern ansonsten die Position des Interviewers innehat, wird er hier seinerseits zum Befragten, so dass sich der Eindruck aufdrängt, die Praxis des Wissen-Wollens, der Genauigkeit des Wahrnehmens und Beobachtens, die zu den späteren gemeinsamen Reisen in die Welten anderer Kulturen gehört, werde hier in der Intimität einer liebenden Paarbeziehung gegenseitig erprobt.

Gemeinsame Themen sind die Lebens- und Familiengeschichte, Kindheit und Pubertät, intellektuelle Interessen, die Atmosphären der Nachkriegszeit, immer wieder die Sexualität mit den Spielarten des erotischen Begehrens und welchen Lüsten oder Unlüsten auch immer, die Wege, auf denen die eine zur Fotografie, der andere zum Schreiben gekommen ist. Die Rede beider hat weder den Charakter einer Beichte, noch eines Tabubruchs – sie bewegt sich in der kühlen Sachlichkeit eines Berichts von nach außen gekehrter Intimität. Dabei gewinnt die Genauigkeit, um die es in allen Dingen geht, zuweilen auch witzige Züge, wenn Irma auf die Frage Jäckis: „Was findest du denn schön an einem Männerarsch?“ zurückfragt: „Beim nackten oder in der Hose? / Das ist nämlich ein großer Unterschied. / Wenn man ihn in der Hose sieht, dann ist es einfach eine voluptuöse Form. / Wenn er nackt ist, dann sieht man noch viel mehr.“[4]

Als ob Irma und Jäcki den alten Ratschlag Freuds, Liebe und Arbeit seien die beiden Grundstoffe gelingenden Lebens, befolgen wollten, berichten beide immer wieder von den Anfängen ihres Fotografierens und Schreibens. Jäcki will fort von den in der Literatur herrschenden Tönen im Nachkriegsdeutschland, Irma, die ausgebildete Bühnenbildnerin, beginnt, mit ihrer Kamera mehr und mehr den Hamburger Raum zu verlassen. Eine verbale Parallelaktion bringt das gemeinsame Ziel zum Ausdruck. Jäcki: „Ich wollte in die Welt“; Irma: „mir kam die Idee, man könnte mit einer Kamera um die Welt fahren“.[5]

„Du machst aus mir einen großen Dichter. / Ich mache aus dir eine große Fotografin.“[6]

Zur Beziehung zwischen der Fotografin und dem Schriftsteller gehört die Auseinandersetzung mit den Besonderheiten beider Künste, eine von Spannungen und Konkurrenzen nicht freie Frage. Der Schriftsteller lässt sich zu dem Vorschlag hinreißen: „Ich würde überhaupt nur weiße Eier fotografieren, sagte Jäcki – vor einer Kalkwand.“[7] Was Leonore Mau aus diesem absurden Ansinnen, auf das proprium der Fotografie, das Spiel mit Licht und Kontrasten, zu verzichten, gemacht hat, zeigt ihr „Selbstporträt mit Ei um ein Uhr nachts am 3.10.1967“.[8]

Schon die Produktionsweisen in Bild oder Schrift können unterschiedlicher kaum sein. Das Foto wird in der Augenblicklichkeit des Moments, jetzt und hier gemacht, so der Schriftsteller nicht ohne Neid: „Ganz. Klick. Fertig. Die ganze Geschichte in einer tausendstel Sekunde. Die Welt als reines Bild. Das ist die wahre Kunst. Nichts weiter mehr als ein Apparat.“[9] Das Schreiben hingegen ist diskontinuierlich, wird von Überlegungen oder revidierten Kompositionsplänen unterbrochen und korrigiert, und wenn es auch nur von drei längst vergangenen Sekunden handeln sollte, so braucht der Schreiber für deren Beschreibung vielleicht einen ganzen Roman, wie Jäcki erklärt; er hat es mit dem „Auseinanderfallen aller Zeiten im Augenblick“ zu tun.[10] Wer allerdings einmal fotografisches Equipment geschultert hat und nicht nur mit Papier und Stift arbeitet, weiß, daß dieses „nichts als ein Apparat“ keineswegs voraussetzungslos ist. Die Wahl des Standortes und Ausschnitts, der Blende und des Objektivs sorgen für eine technisch-prozessuale Instrumentierung des Blicks, und das ist kompliziert. Deshalb kann das Fotografieren auch schon im Moment scheitern. Er werde „nie Fotograf“, bekennt der Schriftsteller, der auf die Dauer des Schreibens setzt, während die Fotografin „keine Zeit für weiße Eier“, die „Ideen eines Schriftstellers (hat), der einen Fotografen beschreibt“.[11]

Eines ist der Fotografie unmöglich: sie kann nicht die Schichten der Zeit, die verlorene und in der Erinnerung wiedergewonnene Zeit, die Verknüpfungen des Hier und Jetzt mit dem Da und Damals darstellen. Dazu bedarf es der Sprache, mit der ein Einst ins Jetzt einzieht oder aus dem Jetzt ein Einst evoziert werden kann. So sehr ein Foto von Irma von einem Erinnerungsort der Vergangenheit, Jäckis geliebter Laubenkolonie in Lokstedt, für sich genommen auch gelungen sein mag, so wenig sind in ihm jene Zeitschichten und Erinnerungsspuren zu finden, auf die es Jäcki ankommt.

Aber im Schweigen der Bilder liegt ein großer Gewinn gegenüber den Grenzen der Sprache. Siegfried Kracauer hat darauf aufmerksam gemacht, dass es die fotografischen Bilder sind, die das Elementare und Gemeinsame der Menschen überhaupt ansichtig machen. Bilder sind viel leichter entzifferbar, spontan zugänglich, sie kennen keine Rezeptionsschranken. Der Schriftsteller schreibt in einer Sprache, die für Menschen anderer Länder erst übersetzt werden muß, wenn es denn Weltliteratur im eminenten Sinne sein oder werden soll. Im Vergleich mit der Fotografie stellt Jäcki fest: „Einen solchen Erfolg hat ein Schriftsteller nie. Ich hatte immer gehofft, daß mich die Afrikaner einmal mit solcher Begeisterung lesen würden.“[12] Als Leonore Mau ihre Fotos in Harlem ausstellt, wird Irma tatsächlich „schwarz“, und dem konkurrierenden Schriftsteller bleibt nur die Feststellung: „Aber ich bin ganz schwarz – das sieht man nur nicht.“[13]

„…daß man in ein fremdes Land geht….“[14]

Die vielen Reisen von Fichte und Mau führen nicht nur ins Unbekannte, sondern auch ins Ungewisse. Man sollte statt von Reisen, die an Urlaub und Tourismus denken lassen, eher von Expeditionen sprechen, die von Zufälligkeiten geprägt sind, scheitern oder gelingen können, weil die Bedingungen des Erkundens und Suchens eben nicht allein in der souveränen Macht des Erkundenden liegen. In „Explosion“, dem Bericht über die drei Brasilienreisen, heißt es: „Etwas panisch reißt Jäcki Irma mit / Was ist denn los: / Komm. / Candomblés suchen / Wo. / Wir nehmen ein Taxi und fahren nach Capelinha und suchen Candomblés / Wie? / Einfach so. Ethnologie ist wie die Päderastie: Man muß viel zu Fuß gehen. / (…) Und warum Capelinha. / Weil der Name so hübsch ist.“[15] Um die Orte und Menschen zu finden, denen das Interesse gilt, hilft kein Reiseführer, wohl aber das Horchen auf den Klang von Trommeln oder der Blick an den Himmel, wo das Kreisen der Aasgeier den Weg zur Favela weisen kann.[16] Wenn das „Opfer verpaßt“ wurde, die „Prozession verregnet“, die „Recherche mißglückt“[17], wenn Auskünfte zweifelhaft sind oder das Fotografieren schwierig, beginnen die Erkundungen am nächsten Tag von Neuem.

Die Recherche gilt zwei Gebieten. Das sind zunächst die Riten der afroamerikanischen Religionen, die kultischen Handlungen mit ihren Opferritualen, Trance- und Rauschzuständen, dionysische Exaltationen und Überschreitungen, die kaum etwas mit einem besänftigten Raum des Heiligen zu tun haben. In Xango und Petersilie, den vier Bänden über die afroamerikanischen Religionen, finden die fotografischen und schriftstellerischen Dokumentationen zusammen. Aufgesucht werden die Praktiken und Orte des Außergewöhnlichen, die mehr oder minder eingehegten Zonen von wiederkehrenden Ausnahmezuständen; zu ihnen gehören auch der Wahnsinn und die Psychiatrie. Neben diesem Außergewöhnlichen gibt es das ganze Gebiet des Gewöhnlichen, des Alltags, der Gewohnheiten, das, was auf den Straßen und Plätzen der Städte und Dörfer zu hören und zu sehen ist, die Gesten der Leute, die Ausdrucksweisen von Freude oder Leid – beobachtet, fotografiert, beschrieben.

Weder bei Mau noch bei Fichte führt das Reisen in fremde Länder zu einer Darstellung kompakter Kulturen, geschweige denn zu so etwas wie ethnisch unterfütterter „Identität“. Mau hat sich explizit „nicht als eine ethnographische Fotografin“ betrachtet[18], Fichte hat die kurrente Ethnologie seiner Zeit beißender Kritik unterzogen. Die Ethnologie wird zu einer an das Zeitalter der Aufklärung erinnernden Anthropologie verschoben, die auf einer Phänomenologie der Fülle menschlicher Verhaltensweisen aufruht, nicht auf einer Auszeichnung eines dichten Fremden. Die Kinder Herodots, so der Titel des von Ronald Kay herausgegebenen Bandes mit seiner Referenz an den bewunderten Forschungsreisenden der Antike, der Fotos von Mau mit Texten von Fichte konstelliert, sind überall.

Braun, Peter, Die doppelte Dokumentation. Fotografie und Literatur im Werk von Leonore Mau und Hubert Fichte, Stuttgart (Verlag für Wissenschaft und Forschung) 1997.

Karpenstein-Eßbach, Christa, Fotografie und Schriftstellerei, in: Das Gewicht der Welt und das Leben in der Literatur. Zum Werk Hubert Fichtes, Göttingen (Wallstein) 2022, S. 165-186.

Kay, Ronald; Leonore Mau, Hubert Fichte. Die Kinder Herodots, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2006.

Schoeller, Wilfried F., Hubert Fichte und Leonore Mau: der Schriftsteller und die Fotografin, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2005.

[1] Hubert Fichte, Hotel Garni. Die Geschichte der Empfindlichkeit Bd. 1, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1987, S. 148.

[2] Hubert Fichte, Forschungsbericht. Die Geschichte der Empfindlichkeit Bd. 15, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1989, S. 141.

[3] Interview mit Ingo Niermann

[4] Hubert Fichte, Hotel Garni, S. 16.

[5] Hubert Fichte, Hotel Garni, S. 10, 144.

[6] Hubert Fichte, Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs. Die Geschichte der Empfindlichkeit Bd. 2, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1988, S. 68.

[7] Hubert Fichte, Eine glückliche Liebe. Die Geschichte der Empfindlichkeit Bd. 4, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1988, S. 25.

[8] Siehe Ohne Titel (Leonore Mau mit Ei und Rolleiflex-Kamera vor dem Spiegel)

[9] Hubert Fichte, Eine glückliche Liebe, S. 28.

[10] Hubert Fichte, Der Kleine Hauptbahnhof, S. 198.

[11] Hubert Fichte, Eine glückliche Liebe, S. 27 ff.

[12] Hubert Fichte, Forschungsbericht, S. 129.

[13] Hubert Fichte, Der Kleine Hauptbahnhof, S. 69.

[14] Hubert Fichte, Hotel Garni, S. 144.

[15] Hubert Fichte, Explosion. Roman der Ethnologie. Die Geschichte der Empfindlichkeit  Bd. 7, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1993, S. 142.

[16] Hubert Fichte, Explosion, S. 54.

[17] Hubert Fichte, Forschungsbericht, S. 127, 137.

[18] So im Interview mit Ingo Niermann (S. 4, LINK?)

Ohne Titel (Selbstporträt mit einem Porträtfoto
von Hubert Fichte), 1962
©  bpk / S. Fischer Stiftung / Leonore Mau

Postkarte von Hubert Fichte an Leonore Mau, 1964
© Nathalie David

Telegramm von Hubert Fichte an Leonore Mau, 1965
© Nathalie David

Ohne Titel (Leonore Mau mit Ei und
Rolleiflex-Kamera vor dem Spiegel), 1967
© bpk / S. Fischer Stiftung / Leonore Mau

Nachricht von Leonore Mau an Hubert Fichte
© Nathalie David

Ohne Titel (Selbstporträt im Hotelzimmer), 1977/78
© bpk / S. Fischer Stiftung / Leonore Mau

Nachricht von Hubert Fichte an Leonore Mau
© Nathalie David

Ohne Titel (Leonore Mau und Hubert Fichte), 1975
© bpk / S. Fischer Stiftung / Leonore Mau

Taschenkalender von Hubert Fichte, 1976
© Nathalie David