Die Erschließung und Zugänglichmachung von Leonore Maus fotografischem Werk und die damit einhergehende Publikation ihrer Bilder im Rahmen einer Online-Datenbank in für den Nachlass Leonore Maus ungekanntem Umfang stellt die beteiligten Akteure und Institutionen vor bisher eher wenig beachtete Fragen juristischer, aber auch ethischer Dimension. Da ist zum einen die Dimension der Persönlichkeitsrechte abgebildeter Personen, ein Feld, dass sich seit der Entstehung der Bilder ständig weiterentwickelt und verändert hat, nicht zuletzt durch die Entwicklung des Internets und der damit verbundenen Möglichkeit, Bilder jederzeit, überall und für jeden zugänglich zu machen. Hinzu kommt, dass die Publikation von Bildern aus sensiblen Entstehungskontexten insbesondere bei Onlinepublikationen aufgrund der weltweiten uneingeschränkten Verfügbarkeit einen besonderen Anspruch bezüglich einer Kuratierung oder Kontextualisierung an die veröffentlichende Institution stellen. Christoph Ransmayr, Schriftsteller und langjähriger Kurator der S. Fischer Stiftung, formulierte zum Publikationskontext einiger Bilder Leonore Maus während der Recherche für diese Website folgenden Gedanken:
„Leidende, gequälte Menschen darzustellen, enthält in den meisten Fällen wohl auch die Verpflichtung, ihre Geschichte so vollständig wie möglich zu überliefern, also nicht nur ihr Bild zu zeigen, sondern erst recht von den Umständen zu reden, zu schreiben, unter denen dieser Sekundenausschnitt aus einem Leben zur Sprache, zur Dokumentation kam. Wenn, in welcher Darstellung auch immer, nicht ein einzelner, unverwechselbarer Mensch mit ‚Namen und Anschrift‘ im Bewußtsein, im Mitleid oder der Empörung eines anderen erscheint, ist bloß ein weiterer Akt des Voyeurismus geschehen.“
Einige Aspekte der Suche nach einem verantwortungsvollen Umgang mit dokumentarischen Bildern aus sensiblen Entstehungskontexten werden am Beispiel des Fotobandes Psyche (2005) und der Fotomappe Grosse Anatomie (1977) von Leonore Mau und Hubert Fichte deutlich:
1974 und 1976 reisen Leonore Mau und Hubert Fichte in den Senegal und besuchen dort in Dakar (Fann) und Ziguinchor in der Casamance die sog. Psychiatrischen Dörfer. Hier entstehen Bilder von Patient:innen, Pfleger:innen und Ärzt:innen dieser Einrichtungen, die später, nach Hubert Fichtes Tod, in dem Bildband Psyche veröffentlicht werden. Fichte führt auf diesen Reisen außerdem zahlreiche Interviews mit Ärzt:innenen und Patient:innen (Psyche, Glossen, 1990). Die Ambivalenz der Entstehungssituation von Bildern und Interviews, sowie des Versuches westeuropäische psychiatrische Behandlungsansätze mit lokalen traditionellen Heilungsansätzen zu kombinieren, wird von einigen von Fichtes Interviewpartnern und von ihm selbst klar benannt und scheint sich auch in Leonore Maus Bildern durchaus widerzuspiegeln. Sie selbst beschreibt die Situation in einem Interview mit Ingo Niermann 2005 folgendermaßen:
„Fann wurde geleitet von dem französischen Professor Henri Collomb. Mit dem sind wir auch in seinem kleinen Flugzeug in die Casamance geflogen, in das von ihm gegründete psychiatrische Dorf. Das Dorf ist gebaut worden, damit die Kranken gemeinsam mit Familienangehörigen leben konnten. (…)
Einmal die Woche versammelten sich die Ärzte und ein Kranker mit Familie zum Pinth, das heißt im Woloff Zusammenkunft. Dann wurde der Fall besprochen, und die meisten Ärzte sprachen nur die Kolonialsprache Französisch. Nur einer konnte Woloff, weil er mit einer Senegalesin verheiratet war. Hubert Fichte schreibt dazu in seinem Text „Gott ist ein Mathematiker“: Wenn man mit einem für verrückt Erklärten nicht in seiner Sprache reden kann, das ist der Irrsinn dritten Grades.“ (…)
Niermann: Sie haben auch das Verabreichen von Elektroschocks fotografiert.
„Da habe ich gedacht, das mußt du fotografieren, denn das ist eigentlich etwas, was Collomb für unpassend erklärte für das Krankenhaus von Fann. Aber es gab noch einen alten Pavillon, in dem das gemacht wurde. Es war so grausam. Der Stecker wurde einfach in die Wand gesteckt, und dann ging irgendwas kaputt im Gehirn.“
Leonore Mau, die die Dimension des Unbehagens für die portraitierten Personen in der Situation des fotografiert Werdens sensibel erfasste (Gespräch Ottinger), und an sich selbst den Anspruch stellte, „nicht als ungefragte Fotografin die Leute zu vereinnahmen“, bzw. niemals ohne Erlaubnis der Abgebildeten zu fotografieren (Niermann Interview), dokumentiert in diesem Fall Menschen in einer extrem vulnerablen Situation. Ihre Intention, das Geschehen zu dokumentieren, steht dabei in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht gar in Widerspruch, zur Wahrung der Würde und der Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Personen.
Während die Entstehungssituation der Fotos in den psychiatrischen Dörfern einen besonders sensiblen Umgang mit den Bildern erforderlich macht, muss bei den Bildern, die Mau für die Fotomappe Grosse Anatomie (1977) im Gerichtsmedizinischen Institut Nina Rodrigues in Bahia von Sektionen mehrerer Leichname macht, das Augenmerk eher auf der Frage liegen, in welchem Kontext die Bilder später reproduziert werden. Die Entstehungssituation selbst scheint nicht so sehr von der oben beschriebenen Ambivalenz geprägt zu sein. Zuschauer:innen waren, laut der Beschreibungen Fichtes (u.a. ’sprit, Monatsmagazin für Kultur und Politik, Nr.1, 1973) keine Seltenheit bei Sektionen dieser Art. Es ist die spätere Reproduktion in Zeitschriften und Katalogen, die Ausstellung der sehr explizit gehaltenen Bilder in Galerien, die Fragen an die rezipierende und auch an die publizierende Haltung stellen. Leonore Mau versieht die limitierte Fotomappe mit einem Sperrvermerk, der die Reproduktion der Bilder untersagt. Ob dieser Sperrvermerk sich auf das Sujet der Bilder oder eher auf verkaufstechnische Aspekte bezieht, ließ sich bisher nicht rekonstruieren. Dass die Bilder der Leichname und des Sektionsvorgangs dennoch, auch zu Lebzeiten von Mau, ausgestellt (u.a. Als Gast von Hinrich Sachs: Leonore Mau, Fotografin, Kunsthalle Basel 2002) und reproduziert (u.a. Schoeller, Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schriftsteller und die Fotografin. 2005) wurden, zeigt, dass es nicht nur gilt, die Entstehungssituation und die fotografische Haltung unter ethischen Gesichtspunkten zu analysieren, sondern auch die Reproduktions- und Rezeptionsgeschichte der Bilder, die sich, wie im Fall der Grossen Anatomie, teilweise losgelöst von der Intention der Urheber:innen entwickeln kann.
Wie war die Situation des Fotografierens? Welche Blickachsen und -Hierarchien werden etabliert oder reproduziert? Wer hat einen Namen, eine Geschichte, wer wird zum Objekt? Wer ist Individuum, wer portraitierte Person und wer ethnografisches „Material“? Wie betrachten und inszenieren wir „das Fremde“? Für welches Publikum wird fotografiert, und wie verläuft die tatsächliche Reproduktions- und Rezeptionsgeschichte eines Bildes? Dies sind nur einige wenige der Fragen, an denen sich Kriterien für einen ethisch verantwortungsvollen Umgang mit dokumentarischen Fotografien orientieren können. Wohlwissend, dass es schier unmöglich ist, konkrete und erst recht nicht allgemeingültige Handlungsoptionen und -anweisungen oder Richtlinien daraus abzuleiten, gilt es für die veröffentlichenden Institutionen dennoch, anhand dieser Fragen eine Haltung zu entwickeln, die es ermöglicht zu entscheiden, welche Bilder in welchem Kontext publiziert werden.
Im Falle der Bilder von Patient:innenen in psychiatrischer Behandlung haben wir entschieden, diese Bilder nicht online zu publizieren, sie jedoch der Forschung zugänglich zu machen und für Wissenschaftler:innen einsehbar zu halten. Denn genau das soll von dieser Website ausgehen: ein Impuls, zu diesen Fragen zu forschen und die Kriterien für einen ethisch verantwortungsvollen Umgang, insbesondere mit dokumentarischer Fotografie, immer wieder zu hinterfragen und zu aktualisieren.