Ingo Niermann (IN): Wie sind sie zur Fotografie gekommen?
Leonore Mau (LM): Jedes Leben entwickelt sich auf irgendeine Weise. Es gibt ja die verschiedensten Zufälle im Leben. Wie haben sich zwei Leute, die geheiratet haben, kennengelernt? Da gibt es die verrücktesten Geschichten. Zum Beispiel eine Freundin von mir, die geht abends noch an den Briefkasten, im strömenden Regen, und von der anderen Seite kommt ein Mann mit Regenschirm und auch einem Brief. In dem Moment – das war ihr Mann. Genauso: Wie kommt man zu einem Beruf?
Ich war nach dem Abitur auf einer Kunstschule, aber durch die Flucht ’45 aus Leipzig hier nach Hamburg hatte man nichts, gar nichts. Es vergehen Jahre, bis man wieder anfangen kann, ein normales Leben zu führen. Als Flüchtling ist man ein Mensch zweiter Klasse, bis man auf einmal wieder in die erste Klasse rutscht, weil man irgendwas tut, was ankommt.
Ich bin eben dazu gekommen, daß ich eine Kamera kriegen konnte, eine Leica, und ich wollte eigentlich … aber warum soll ich das eigentlich alles erzählen? Ich bin Fotografin, Punkt.
IN: Und Ihnen war gleich klar: Das ist jetzt mein Beruf?
LM: Ja, ich hab auch nie Gefälligkeitsfotos gemacht. Als ich in Hamburg die Kamera hatte und angefangen habe, da hatte ich sofort mit dem ersten Film ein Titelfoto in der Hamburger Hafenzeitschrift. Es hat sofort gefunkt. Obgleich ich von Hamburg ganz wenige Fotos gemacht habe.
IN: Hamburg hat Sie nicht so interessiert?
LM: Es gibt sehr schöne Fotos von Hamburg, aber es reicht ja, wenn das andere machen.
IN: Sie haben dann damit begonnen, Häuser für Architekturzeitschriften zu fotografieren.
LM: Eine Redakteurin sagte mal zu mir: Fotografieren Sie eigentlich auch Architektur? Und da ich damals noch mit einem Architekten verheiratet war und davon auch was verstand, habe ich das mal angefangen und damit einiges Geld verdient, was ich auch dringend brauchte, um mir eine tolle Kameraausrüstung zu kaufen.
IN: Nachdem sie Anfang der 60er Jahre mit dem Schriftsteller Hubert Fichte zusammenzogen, was war Ihre erste gemeinsame Arbeit?
LM: Das waren Fotofilme für das deutsche Fernsehen. Zuerst hier in Hamburg: Der Tag eines unständigen Hafenarbeiters. Dann in Sesimbra, in Portugal, da sind wir eigentlich hingefahren, weil das Wort so schön klingt. Das war ein sehr schönes Fischerdorf am Meer, inzwischen ist es eine Touristenmetropole geworden, weil es sehr nah bei Lissabon liegt. Die hatten mitten im Dorf einen Fischmarkt, und ich habe eigentlich nur Fische fotografiert. Man brauchte für einen 20-Minuten-Film ungefähr 500 oder 600 Photos. Das ist viel, aber diese Arbeit hat mir irrsinnigen Spaß gemacht. Und dann hat Hubert Fichte die ausgesucht, auch die Reihenfolge und wie lange jedes Bild stehen muß, er hat den Filmschnitt gemacht.
Dann habe ich noch einen Fotofilm gemacht in Rom auf der Spanischen Treppe. Die war immer voll von jungen Leuten, und dann war oben dieses elegante Hotel, da kommen elegante Leute herunter. Die ganze Zeit, wo wir in der Villa Massimo waren, bin ich da hin.
Leider ist dieses Medium Fotofilm nicht mehr besonders aktuell. Sonst könnte ich zum Beispiel aus den ganzen Dokumentationen der afroamerikanischen Religionen einen Fotofilm machen.
IN: Ihre Erkundungen über die afroamerikanischen Religionen beginnen 1968 mit einer Reise nach Brasilien. Wie kam es zu der Reise?
LM: Erstmal hatten wir in diesem Moment genügend Geld.
IN: Hubert Fichte hatte den Roman Die Palette veröffentlicht.
LM: Ja, da hatte er ziemlich viel Geld mit verdient. Dann haben wir uns die Tickets gekauft, erst zu einer kurzen Reise, drei Monate, ist nicht viel.
IN: Und warum haben Sie sich für Brasilien entschieden?
LM: Weil wir wußten, daß die schönsten Riten in Brasilien sind – von den Candomblé -, und weil wir portugiesisch konnten.
Wir sind nachts durch eine Favela gegangen, immer den Trommeln nach. Die Trommeln, die am schönsten und am lautesten klangen, da sind wir vor der Hütte stehen geblieben. Aber wir sind nicht reingegangen, sondern wir haben gewartet. Die Leute haben den sechsten, siebten oder achten Sinn, nach zwei Minuten kamen gleich zwei raus und fragten uns, ob wir hier was suchten. Wir konnten denen in portugiesisch antworten, was sie sofort sehr freundlich stimmte. Und dann haben sie gesagt, wir sollten doch bitte reinkommen. Ich habe gefragt, ob ich auch Fotos machen dürfte. Dann redeten die eine Weile miteinander, ahnten aber wohl nicht, daß wir das perfekt verstanden. Die haben nämlich gesagt: Da sind zwei Leute aus Europa, und die Frau will Fotos machen. Aber das kann sie ruhig, denn die Götter erlauben das nicht, da kommt nichts drauf. – Die Götter erlaubten das doch, es war alles drauf.
Nach den drei Monaten haben wir beschlossen, Geld aufzutreiben und für ein ganzes Jahr zu kommen, weil die wichtigsten Feste über das ganze Jahre verteilt sind. Und wir haben sie alle fotografiert.
IN: Das Interesse für die afroamerikanischen Religionen hat Sie dann nicht nur nach Afrika geführt, sondern Sie haben auch eine Botschaft der Priesterinnen des brasilianischen Tempels Casa das Minas, der von einer versklavten Tochter des Königs von Abomey vor 300 Jahren gegründet worden sein soll, an den Königshof von Abomey in Benin überbracht.
LM: Jeder in Brasilien weiß, was die Casa das Minas ist. Die Priesterinnen genießen ein hohes Ansehen. Wir haben denen erzählt, daß wir nach Westafrika reisen, und die haben uns einen Gruß und ein Tonband mit ihren Gesängen mitgegeben, um sie an den Königshof von Abomey zu überbringen. Hubert Fichte hat als Botschafter-Ausweis eine bunte Glasperlenkette bekommen. Da erzählt jede Farbe etwas Bestimmtes und jede Position der Perlen gegeneinander.
Nachdem sie am Königshof die Kette angeguckt haben und die Gesänge vom Tonband gehört, haben sie ein großes Stück Papier genommen und darauf eine Einladung an die Priesterinnen der Casa das Minas geschrieben.
IN: Man hat die brasilianischen Gesänge und die Kette erkannt?
LM: Ja, das hat die eben so beeindruckt und gerührt.
IN: Sind die Priesterinnen der Einladung gefolgt?
LM: Ich glaube nicht; das hätten wir irgendwie erfahren. Die Priesterinnen der Casa das Minas hatten uns gesagt, sie müssen einmal nach Abomey, weil ihnen bei einem Ritus irgendwas fehlt. Da hat Hubert Fichte gesagt: Dann wollen wir gleich mal anfangen, wir machen zweimal die Woche französisch. Hubert hat angefangen, denen französisch beizubringen, und das hat auch sehr gut funktioniert, aber er ist dann gestorben.
Später haben die Priesterinnen mich wissen lassen durch einen Botschafter, der nach Deutschland kam: Casa das Minas möchte die Kette wieder zurückhaben. Was denken Sie, die Reaktion von Leuten in Deutschland, wenn ich das erzählt hab: Ach, so’ne Glaskette, du bist ja verrückt. – Nein, das ist eine ganz bestimmte Glaskette, und ich möchte darüber mit Euch nicht mehr reden. Ich bin nach Brasilien geflogen und habe denen die Kette wiedergebracht. Die haben sich so gefreut, das war toll.
IN: Beim Königshof von Abomey haben Sie auch das faszinierende und verstörende Foto eines kleinen Jungen gemacht, der sich eine leere Tablettenhülse als eine Maske vorgebunden hat.
LM: Wir standen auf der Straße und guckten uns um. Auf einmal sah ich den Jungen da stehen. Da bin ich, ohne Hubert Fichte was zu sagen, ich hab nur gesagt: Ich komm gleich wieder, weil ich hatte Angst, daß der Junge wegläuft. Ich hab ihm dann gesagt, er möchte bitte stehen bleiben, ich würde gern ein Foto von ihm machen. Was ihn sehr begeistert hat.
Die Kinder in Westafrika sind unglaublich geschickt im Nachmachen aus irgendwelchen Abfällen oder einfachen Materialien. Neulich gab es einen Film über Senegal, wo das eine richtige Industrie ist: nachgemachtes Spielzeug.
IN: Haben Sie nie fotografiert, ohne zu fragen?
LM: Nein, ich habe mich immer an die selbstgemachte Regel gehalten, nicht als ungefragte Fotografin die Leute zu vereinnahmen. Ich habe eigentlich immer gefragt, auch bei Zeremonien. Wenn wir erfahren haben, da und da ist ein Tempel, sind wir zuerst einmal ohne Kamera hingegangen, haben uns vorgestellt und gefragt, ob wir daran teilnehmen dürfen. Und wenn die sagten Ja, sind wir geblieben bis zum Ende. Also nicht scheu, wie die Touristen immer so reingucken, sondern manchmal wirklich zwölf Stunden.
Hubert war genial im Herausfinden von Dingen. Und der kriegte auch immer, was er wollte, das ist unglaublich, er hatte so eine Ausstrahlung. Wir haben nur ein einziges Mal eine Absage gekriegt, die war aber auch begründet, weil das eine Geheimzeremonie war. Das hat immer geklappt.
IN: Es gibt eine Beschreibung von Hubert Fichte im Buch Petersilie: „Ein Junge hat sich eine Flugmaschine angeschnallt, blutig angestrichenes Metall, Spiegelscherben. Er hat sich wulstige, mit Eberzähnen gespickte Lippen vorgebunden, die er abnimmt, als Leonore ihn fotografieren will.“
LM: Das kann natürlich sein, daß da irgendein Aberglaube ist, wie es ganz stark ist in islamischen Ländern, da muß man wirklich sehr aufpassen, weil die meinen, man nimmt ihnen die Person weg. Ich hab dann nie insistiert: Ich will das aber haben, mach das mal. Ich habe niemals irgendwelche Schwierigkeiten gehabt, weil ich das respektiert hab. Aber es war andererseits auch so, wenn ich mal nicht dabei war mit der Kamera, daß irgend jemand dann sagte: Wo ist Kodak?
IN: Ist es Ihnen passiert, daß man Sie zwar hätte fotografieren lassen, es Ihnen aber indiskret erschien?
LM: Die Grenze zwischen Indiskretion und Faszination ist sehr sehr eng. In Brasilien war eine riesige Regenkatastrophe, tagelang hat es geregnet, die ganzen Favelas rutschten den Berg runter, und wir konnten in dem kleinem Haus, das wir gemietet hatten, auch tagelang nicht raus, weil alles von Wasser umgeben war.
Als ich dann raus konnte und mit meiner Kamera in Richtung Innenstadt ging, lagen eine Menge Tote auf der Straße, vollkommen von Schlamm umgeben. Ich wollte die gerade fotografieren, und die Polizisten sahen mich mit meinem professionellem Equipment – und die haben sofort die Tücher hochgerissen, wo die Toten drunter lagen. Die haben mich quasi aufgefordert, mit freundlichen Gesten, ein Foto zu machen. Das hab ich dann auch gemacht – das ist ganz klein im Bildband Xango drin, mit dieser Erzählung.
IN: Sie haben in Westafrika in den siebziger Jahren Verrückte fotografiert, die auf öffentlichen Plätzen festgehalten wurden. Fühlten die sich nicht ausgestellt?
LM: Im Gegenteil. Daß man denen soviel Aufmerksamkeit schenkte, das hat die begeistert. Überhaupt keine Schwierigkeiten. Das war in Togo oder Benin. Die Leute, die – wo man sagt – nicht normal sind, die werden nicht in Kliniken getan, sondern auf dem Dorfplatz angepflockt. Dann gehören sie immer noch zur Gemeinschaft, die Leute reden mit denen. Vor allem die Kinder reden gerne mit denen und die reden auch gerne mit den Kindern. Die Leute lachen natürlich auch mal über die, aber die werden nie schlecht behandelt. Wir haben das wirklich beobachtet, waren einen ganzen Tag in so einem Dorf. Keine Aggression.
Natürlich ist das auch grausam, aber die haben kein Geld für ein Hospital. Und im Grund genommen, wenn man es sich vorstellt: Man ist von der Gesellschaft, das geht ja sehr schnell, als verrückt erklärt und liegt den ganzen Tag und guckt mehr oder weniger weiße Wände an. Das ist ja ein perfektes Mittel, um verrückt zu werden.
In Afrika haben die auch ganz andere Erklärungen für Irrsinn, zum Beispiel die schlechte Behandlung von toten Familienangehörigen. Wenn man die nicht genug verehrt. Wenn jemand die Regeln der Gesellschaft verletzt, dann ist er noch lang nicht ausgestoßen. Es muß schon einer tobsüchtig sein, dann sagen sie: Der ist krank.
IN: Wie begann es, daß Sie sich mit Irrsinn und Psychiatrie in Westafrika beschäftigt haben?
LM: Im Senegal gab es viele Intellektuelle, mit denen wir geredet haben, und die haben uns von der berühmten psychiatrischen Schule von Fann erzählt und uns auch dahin begleitet. Da sind wir 1974 drei Wochen gewesen. Da war in der Nähe ein sehr anständiges kleines Hotel, und da haben wir, noch nebenbei, ohne daß wir das vorher wußten, eine ganz tolle Sonnenfinsternis erlebt. Die Angestellten von dem Hotel, die zitterten vor Angst, die hatten das Gefühl, jetzt ist es zuende, Welt zuende, Leben zuende. Das war wirklich eindrucksvoll.
Fann wurde geleitet von dem französischen Professor Henri Collomb. Mit dem sind wir auch in seinem kleinen Flugzeug in die Casamance geflogen, in das von ihm gegründete psychiatrische Dorf. Das Dorf ist gebaut worden, damit die Kranken gemeinsam mit Familienangehörigen leben konnten. Die hatten ihr eigenes kleines Strohhäuschen und konnten dort auch kochen.
Einmal die Woche versammelten sich die Ärzte und ein Kranker mit Familie zum Pinth, das heißt im Wolof Zusammenkunft. Dann wurde der Fall besprochen, und die meisten Ärzte sprachen nur die Kolonialsprache französisch. Nur einer konnte Wolof, weil er mit einer Senegalesin verheiratet war. Hubert Fichte schreibt dazu in seinem Text Gott ist ein Mathematiker: Wenn man mit einem für verrückt Erklärten nicht in seiner Sprache reden kann, das ist der Irrsinn dritten Grades.
IN: Was denken Sie über das traditionelle Heilen im Vergleich zur modernen westlichen Psychiatrie?
LM: Ich kann darüber nicht unbedingt was sagen, weil ich die Ergebnisse nicht vergleichen kann. Aber Tatsache ist, daß in der afrikanischen traditionellen Therapie eine extreme Zuwendung zum Kranken besteht.
IN: Henri Collomb sagt im Interview mit Hubert Fichte, daß die westliche Psychiatrie in Afrika sich um die Menschen kümmere, die man früher, weil sie mit den traditionellen Mitteln nicht zu bändigen waren, vielleicht in den Busch getrieben oder sogar getötet hätte.
LM: Die benutzten in Fann die Medikamente, die hier auch benutzt werden, aber in ganz anderen Dosierungen, und einige Medikamente sind wirklich ganz schlimm.
IN: Sie haben auch das Verabreichen von Elektroschocks fotografiert.
LM: Da habe ich gedacht, das mußt du fotografieren, denn das ist eigentlich etwas, was Collomb für unpassend erklärte für das Krankenhaus von Fann. Aber es gab noch einen alten Pavillon, in dem das gemacht wurde. Es war so grausam. Der Stecker wurde einfach in die Wand gesteckt, und dann ging irgendwas kaputt im Gehirn.
IN: Es gibt heute ja eine Renaissance des Elektroschocks.
LM: Ja, ich hab das auch gehört.
IN: Wohl mit nicht mehr ganz so hohen Dosen.
LM: Da wird irgendwas gemessen, aber das Gehirn ist immer noch ein Geheimnis, ist noch lange nicht ganz erforscht.
IN: Einige Ärzte sagen, im Interview mit Hubert Fichte, daß sie die Elektroschocks nicht nur geben, weil es an Medikamenten fehlt, sondern weil es von den Familienangehörigen ausdrücklich gewünscht wird. Für sie gleiche der Elektroschock einem Initiationstod.
LM: Nur was dabei im Gehirn kaputt gemacht wird, das wissen noch nicht einmal die Leute hier in Europa.
IN: Sie haben im Senegal auch eine besonders intensive traditionelle Heilungszeremonie fotografiert, das N’Doep.
LM: Eine Geisteskranke muß sich auf einen Stier setzen. Dann wird der Stier getötet und sie wird mit ihm – begraben kann man es nicht nennen, aber man wirft lauter Tücher über sie, sie hat gerade noch ein Luftloch. Danach wird sie mit dem Blut eingerieben und die Gedärme von dem Stier werden um sie rumgewickelt. Also eine Riechschocktherapie. Das ist ein solcher Schock, daß viele wieder ins normale Leben zurückkommen. Stellen Sie sich vor, Sie werden mit einem toten Stier begraben, und dann werden Sie mit dem Blut eingerieben. Und dann müssen sie tanzen stundenlang. Die werden nie alleingelassen, das geht eine ganze Woche. Und wenn die nicht Erfolge hätten, dann würden sie das nicht machen. Dann würden die Leute sagen: Ihr seid verrückt. Aber das wirkt.
IN: Hubert Fichte beschreibt in Explosion, dem Roman über Ihre Brasilienreisen, wie Sie alle Zutaten für ein Initiationsgetränk zu finden versuchen. Was praktisch unmöglich ist, weil es unglaublich viele verschiedene Bezeichnungen gibt oder auch die gleiche Bezeichnung für Verschiedenes. Kurz vor ihrer Rückreise trinken Sie das ungewisse Resultat. Haben sie noch Erinnerungen daran?
LM: Oh ja, ich erinnere mich noch. Im Flugzeug, irgendwie juckte es mich, ich wollte da hinfassen und meine Hand landete ganz woanders. Nach zwei Tagen war alles wieder normal.
IN: Haben Sie auch Rituale an sich vornehmen lassen?
LM: Nein. Das haben wir auch strikt gesagt. Der Hubert Fichte hat mal einem Priester gesagt in Venezuela, der anfing, ihn mit Nadeln zu stechen: Wenn du das tust, kommen wir nie wieder. Wir beschreiben und fotografieren das, aber es ist unmöglich, in der kurzen Zeit, das wäre eine totale Lüge, zu dem Entschluß zu kommen, daran teilzunehmen. Das Äußerste war, davon gibt es ein sehr schönes Foto, daß ihm ein Priester am Ende, morgens um sechs, mit einem blutigen Finger ein Mal auf die Stirn gemacht hat.
Außerdem ist es so, daß wenn man die Kamera hat, dann ist man irgendwie dagegen gefeit, daß man da mitgerissen wird. Mir ist es passiert, als wir ein drittes Mal nach Haiti kamen und von einem Voodoo-Priester zu einer Zeremonie eingeladen wurden. Es ist phantastisch, wie die trommeln, und nach drei Stunden, ich dachte: Was ist los? Ich bin vollkommen weggesackt, Hubert Fichte hat mich gerade noch gehalten. Ich war also quasi ohnmächtig. Mit der Kamera wär mir das nie passiert. Da ist man so wach. Aber ohne – die haben sich natürlich sehr gefreut, daß diese Weiße einmal merkt, was da los ist.
IN: Die bekanntesten ethnographischen deutschen Fotos sind wohl die Nuba-Fotos von Leni Riefenstahl.
LM: Ja, die sind als Fotos bemerkenswert. Sie sind für mich zu nah an Werbefotos, zu schön eigentlich, aber sie ist eine unglaubliche Person. Daß ihr diese Nazi-Geschichte anhängt, das ist ihr Pech. Aber der Film über den Nürnberger Parteitag ist genial, weil sie darin dokumentiert, daß die Nazis aus den Deutschen eine Maschine gemacht haben, eine funktionierende Maschine. Das soll man ihr erstmal nachmachen. Es gibt viele Leute, die gleich sagen: Leni Riefenstahl, die alte Nazi-Tante – das finde ich Quatsch.
IN: Leni Riefenstahl hat ja auch bei den Nuba gelebt.
LM: Es gibt dieses unheimliche Photo, wo sie an einem sandigen Weg mit einem splitternackten Nuba steht, der doppelt so groß ist wie sie.
IN: Selbst wenn Sie als Fotografin das Gefühl haben, gar nicht richtig anwesend zu sein – der Betrachtete nimmt es wahr und verhält sich vielleicht anders.
LM: Das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht dabei sein kann, wenn ich nicht dabei bin. Das geht leider nicht. Die Grenzen zwischen Objektivität und Subjektivität sind völlig fließend. Objektiv – subjektiv: Das ist eigentlich ungültig. Ich kann nur fotografieren, was mich total fasziniert. Jemand, zu dem ich überhaupt keine Beziehung hab, das wird ein schlechtes Photo. Und das war genauso bei den Riten. Ich betrachte mich auch überhaupt nicht als eine ethnographische Fotografin, sondern als eine Fotografin, die etwas fotografiert, was sie total einnimmt.
Bei der Fotografie ist es so, daß man in dem Moment, in dem man es macht, gefordert ist. Entweder man hat es oder man hat es nicht. Besonders bei den Zeremonien. Ich habe niemals gesagt: Machen Sie das noch mal. Das ist Quatsch, das geht nicht. Aber jemand, der schreibt, macht seine Notizen oder hat es im Kopf und kann es in aller Ruhe oder Unruhe ausarbeiten. Das kann ein Fotograf nicht.
IN: Wie war für Hubert Fichte das Verhältnis von Wort und Bild? Empfand er nicht auch eine Konkurrenz zwischen seinen Texten und ihren Bildern?
LM: Nein, er liebte es, Dinge total zu beschreiben, aber sonst wären wir auch gar nicht so lange zum Beispiel in Brasilien geblieben und überall, weil er immer sagte: Du mußt das noch haben und das noch haben. Das berühmte Blutbad, es hat ihm unglaublichen Spaß gemacht, daß ich das gekriegt hab. Hubert Fichte reagierte ganz positiv auf meine Art zu fotografieren.
IN: Was meinen Sie mit positiv?
LM: Daß er mit mir darüber redete und mir dabei behilflich war. Aber nie eine Kamera angerührt hat, weil er sagte: Ich will nie in meinem Leben fotografieren. – Aber die besten Fotos, die es von mir gibt, die hat er gemacht.
IN: Was meinen Sie damit?
LM: Genau das, was ich sage. Wir saßen uns mal im Zug gegenüber, der Zug war ganz leer. Und dann hat er zu mir gesagt: Stell mal die Kamera auf mich ein, dann gibst du mir die Kamera und ich mache ein Foto von dir. Genau das ist geschehen, und das ist eines der besten Photos, das es von mir gibt.
IN: Hubert Fichtes Opus Magnum Die Geschichte der Empfindlichkeit beginnt damit, daß der homosexuelle Jäcki und Irma miteinander intim werden. In Jäcki und Irma sind unschwer Sie beide wiederzuerkennen. Ist Ihnen das nicht unangenehm, so entblößt zu werden?
LM: Nein, überhaupt nicht. Ich bin ja oft gefragt worden. Bei Interviews – ein SPIEGEL-Redakteur, der fing so an: Gespräche unter der Bettdecke. Da hab ich gesagt: Ich sag kein Wort mehr. Aber Literatur ist Literatur. Da bin ich vollkommen auf Seiten der Sprache. Wenn jemand gut schreibt, dann kann er alles schreiben.
In dem Verfall der Sprache, in dem wir leben, muß man, finde ich, ein Verhältnis zur Sprache haben. Deshalb hat dieses Land auch keine Macht mehr: weil die Sprache verschlammt. Die ist nicht mehr glaubwürdig.
IN: Wann hat das angefangen?
LM: Ich glaube, das ist das Ergebnis von zwei verlorenen Kriegen. Das wird ein Land so leicht nicht los. Und von einer Überalterung – ich bin ja auch kein Backfisch mehr. Aber das Bewußtsein, da zu sein und zu beobachten, ist mir immer noch sehr wichtig.
IN: Denken Sie an die gesprochene Sprache oder an die geschriebene?
LM: Beide. Also was man in den Medien manchmal hört an Wörtern, die so aneinandergesetzt werden, solche Wortschlangen. Natürlich auch da reingehauen hat die Sprache der Politiker. Die ist ja auch ziemlich schlimm.
IN: War sie vielleicht früher auch.
LM: Aber früher waren die Politiker nicht so präsent. Wenn die Leute einmal im Jahr ihren Kaiser oder König sahen, das war schon viel. Heute sind diese armen Menschen jeden Tag vorm Fernsehen.
IN: Die Geschichte der Empfindlichkeit ist mit ihren 19 Bänden wohl eines der umfangreichsten Romanprojekte überhaupt. Hat Hubert Fichte selbst von Anfang an mit einer solchen Größe gerechnet?
LM: Er hat, wie man das tut, wenn man etwas ganz Neues konzipiert, da nur wenig drüber geredet, weil er selber das Gefühl hatte, das ist noch nicht fertig. Und dann eines Tages kam er an aus der Weinstraße, das ist hier in Hamburg Othmarschen die Einkaufsstraße um zwei Ecken, mit neun orangefarbenen Ordnern. Und sagt: Die alten schwarzen schmeiß ich alle weg, ich fang jetzt das neue Werk an. Und hat mir das lange erklärt und auf einmal standen da lauter orangefarbene Ordner. Aber er hing auch sehr an solchen scheinbar harmlosen Dingen.
Darüber wurde er leider sehr krank, kam im Januar ’86 ins Krankenhaus und wurde operiert an einem Krebs der Lymphdrüse. Er hat aber – sein Körper war angegriffen, nicht sein Geist – ganz genaue Statements gemacht, wann was und was nicht und wie. Es gibt leider in dieser deutschen Bundesrepublik einige Germanisten, die immerzu behaupten wollen: diese unvollendete Geschichte. Das stimmt einfach nicht.
IN: Und wissen Sie, warum er die bereits fertigen Teile nicht veröffentlichen wollte, bevor nicht die gesamte Geschichte der Empfindlichkeit abgeschlossen wäre?
LM: Das kann ich auch nicht sagen. Wenn er ein Konzept hatte für irgendwas, dann hat er es nicht lange erklärt, sondern das mußte so sein.
IN: Dachte er an Proust, der seine Recherche auch erst gegen Lebensende zu veröffentlichen begann?
LM: Das könnte sein, den hat er ja auch sehr verehrt.
IN: Hubert Fichte ist vor fast zwanzig Jahren gestorben. Warum erscheint Psyche, ihr gemeinsamer Bild- und Textband über die Geisteskranken in Afrika, erst jetzt?
LM: Der Verlag hatte Xango und Petersilie gemacht, zwei Text- und Bildbände über die afroamerikanischen Religionen, und es sollte eine Triologie sein. Zwei Leute aus der Verlagsspitze waren hier und haben sich das angeguckt auf dem Lichtkasten und waren begeistert: Machen wir! Dann kam sofort der Hersteller, wir haben von morgens bis abends hier gesessen und jede Seite besprochen.
Dann wurde Hubert Fichtes Krankheit immer schlimmer, er mußte ins Krankenhaus, und nach der ersten Operation krieg ich einen Brief vom Fischer-Verlag, und da stand drin: Sie hätten einen neuen Marktmenschen, der hat das kalkuliert und gesagt: Seid ihr verrückt, das wird doch viel zu teuer. Und dann kriegten wir herzzerreißende Briefe: Wir werden uns aber und so weiter und in Zukunft und – alle diese Versprechungen, und die haben nie einen Finger gerührt.
Ich glaube, wenn der Hubert Fichte nicht krank gewesen wäre, hätten sie das nicht gemacht. Der konnte auch sehr aggressiv sein. Er hat mir einmal erzählt, wie er bei der Verlegerin, Frau Schoeller, war und sagte: Ich möchte jetzt einen Vorschuß haben, auf das und das, das waren, glaube ich, 50.000 Mark. Und die sagte zu ihm: Sie wollen also Geld haben. Und dann hat er geantwortet: Nein, ich will das ausgeben.
Ich habe dann Psyche erstmal liegenlassen und den Vertrag gemacht für die Geschichte der Empfindlichkeit. Dann habe ich drei oder vier Jahre lang – ich konnte überhaupt nicht tippen – den Band Explosion abgetippt. Das sind über 1000 Seiten, eine schwer zu lesende Handschrift. Da war Foto für mich erstmal ganz weit weg. Aber die Bücher sind alle erschienen.
IN: Warum hat es mit Psyche jetzt doch noch geklappt?
LM: Ronald Kay, der Lebensgefährte von Pina Bausch – ich bin mit der auch sehr befreundet -, hat sich die Dias angeschaut und gesagt: Davon machen wir eine Marquette, und wir haben die ganzen Dias laserkopiert. Diese Marquette hat die Verlegerin, Frau Schoeller, vor einem Jahr zum erstem Mal zu Gesicht bekommen und war entschlossen, das zu realisieren, weil sie so begeistert war.
IN: Das Layout ist noch …
LM: Das ist von Hubert Fichte.
IN: Fotografieren Sie heute noch?
LM: Ja, Fotos, die ich selber erfinde. Aus Pflanzen, Muscheln, allem Möglichen, was es hier im Hause gibt. Die sind benannt Fata Morgana.
IN: Vermissen Sie es nicht, Fotos draußen, auf Reisen, zu machen?
LM: Ja, natürlich. Im Augenblick geht das nicht, weil mein Gang mit den beiden operierten Knien relativ schlecht ist. Aber wenn ich jetzt eingeladen würde, ich würde das sofort machen. Wenn ich das Geld hätte, jemanden zu bezahlen, der mitkommt und mir die Kamera trägt.
IN: Auch weit?
LM: Ja, der lange Flug – man wird bedient, man sieht einen Film, freut sich, daß man weit weg kommt, kann aus dem Fenster gucken. Was ist eigentlich so anstrengend daran?
IN: Sie sind, soweit ich weiß, nie nach Asien gereist. Warum?
LM: Weil das zuviel ist. Da reicht ein Leben nicht aus. Da muß man vor allem die Sprachen lernen, und es kostet alles unglaublich viel Geld. Wir haben keine öffentlichen Fördermittel gekriegt. Einmal von einer Stiftung etwas, aber auch eine mindere Summe. Eigentlich haben wir uns das immer alles selber verdient. Und dazu muß man irrsinnig viel arbeiten.
IN: Sie haben ihre Reisen mit Aufträgen für Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunksender finanziert.
LM: Ja, das haben wir alles geplant und angeleiert, und es gab immer eine Zeit am Tag, wo man ein bis zwei Stunden am Telefon saß. Aber dann weg weg weg. Ich weiß gar nicht, wie die Leute das aushalten, die nur immer hier in Deutschland sitzen.
IN: Sie haben aber nie überlegt, ganz wegzuziehen?
LM: Nein, auch nicht wegen der Sprache.
IN: In ihrer jetzigen Wohnung leben Sie fast seitdem Sie mit Hubert Fichte zusammenzogen.
LM: Diesen Hausbesitzer kann ich wirklich in Gold fassen. Gut, viele Leute sagen, das Haus müßte mal und das müßte mal. Gut, das müßte mal restauriert werden, aber mir ist das ziemlich egal. Dieser Mensch hat mir seit Hubert Fichtes Tod die Miete nicht erhöht – aus Anstand. Ich hab hier einen riesen Platz, eine Dunkelkammer, und es ist eine wahnsinnig schöne Wohnung.
Was für ein Tag ist heute?
IN: Der erste April.
LM: Der Beerdigungstag von Hubert Fichte, erster April.
IN: Besuchen Sie dann normalerweise sein Grab?
LM: Ich bin keine Grabbesucherin und Hubert Fichte war es auch nicht. Wir haben darüber mal ganz lange geredet. Er hing an seiner Großmutter und war ganz unglücklich, als die starb, aber er sagte: Ich gehe nie auf das Grab.
Mir geht es nicht ganz so heftig. Ich hab beim Grab einen sehr schönen Stein hinsetzen lassen, mit einem eingeritzten Empedokles-Satz, den liebte er so. Ich erinnere mich noch, an einem ganz verlassenen Strand in Brasilien sehe ich ihn plötzlich mit einem Holzstöckchen, das man so am Strand findet, in der Hand, und da hat er diesen Satz schon eingeritzt: Ich bin einst gewesen ein Jüngling und eine Jungfrau, Busch, Baum, Vogel und Fisch.